Unsere Tochter M. kam 2018 zehn Wochen zu früh auf die Welt. Leider hat ihr Darm die frühe Geburt nicht gut mitgemacht und etwa 80% des Dünndarms sind abgestorben. Kurzdarmsyndrom nennt man das, wenn der Darm nicht mehr in der Lage ist, den Körper ausreichend mit Energie zu versorgen. Drei Jahre lang musste sie heimparenteral ernährt werden. Das heißt, dass ein Schlauch in ihrer Brust lag, der bis kurz vors Herz ging. Durch diesen Schlauch lief jede Nacht eine Infusion, die M. zusätzlich ernährt hat, sonst wäre sie verhungert. Die linke Hälfte unseres Kinderzimmers sah aus wie eine Intensivstation, denn das war es, was wir als Eltern jeden Tag machten: Die intensivmedizinische Versorgung unseres Säuglings und später Kleinkinds. Auch harmlose Hautbakterien hätten am oder im Katheter innerhalb von wenigen Stunden zu einer lebensbedrohlichen Blutvergiftung führen können. Heute lebt sie ohne Katheter. Damit ihr Darm sie allein ernähren kann, müssen wir alles, was sie zu sich nimmt streng kontrollieren, auf den richtigen Rhythmus achten (etwa 9 Mahlzeiten am Tag), kleinste Anzeichen von Hunger bemerken, doch die Anspannung ist weniger geworden.
Doch was das Leben mit einem kranken Kind wirklich hart macht, ist nicht die Pflege. Was uns immer wieder zum Verzweifeln bringt, ist die Bürokratie, die damit verbunden ist, einen Menschen zu Hause zu pflegen, vor allem ein Kind.
Hier in paar Beispiele, auszugsweise:
Auf dem Land gibt es keine Kindergastroenterologen. Damit wir nicht hunderte von Kilometern für jede Untersuchung fahren müssen, übernimmt das der Chefarzt der 30km entfernten Pädiatrie. Er hat in einem früheren Leben mit Darmkranken Kindern gearbeitet, doch er hat keine offizielle Zertifizierung als Kindergastroenterologe. Dazu kommt, dass er kein niedergelassener Arzt ist, sondern in einem Krankenhaus arbeitet. Doch er ist der einzige Arzt, der sich traut, unsere Tochter zu behandeln. Das heißt, dass wir vor jedem Routinetermin eine Überweisung ins Krankenhaus brauchen, also fahren wir erstmal zur Kinderärztin. Medikamente und Spezialnahrungsmittel schreibt er dann in einen Brief. Diesen Brief nehmen wir mit zur Kinderärztin, die ein Rezept ausstellt. Doch die Behandlung unserer Tochter ist teuer. Das schreckt die Kinderärzte ab. Dann erwartet sie, dass der Chefarzt ihr weitere Briefe schreibt, mehr Datenmaterial gibt, um zu ihren Akten zu legen. Einmal mussten wir den Kinderarzt aus diesen Gründen schon wechseln. Wir bekamen einfach keine Rezepte mehr.
Ist der Chefarzt der Klinik in Urlaub, behandelt im Ernstfall niemand unsere Tochter. Zum Glück, ist das bisher nicht passiert. Eine Fernbetreuung durch niedergelassene Kindergastroenterologen ist nicht möglich. Nur eine Mit-Betreuung durch ein Kurzdarmspezialzentrum in einer anderen Klinik.
MDK bewertet die Pflegebedürftigkeit eines Säuglings, eines Kleinkinds, eines Jugendlichen an Hand einer Skala, die für Senioren geschrieben wurde
Was vielen nicht klar ist: Der MDK bewertet die Pflegebedürftigkeit eines Säuglings, eines Kleinkinds, eines Jugendlichen an Hand einer Skala, die für Senioren geschrieben wurde. Dort werden Punkte abgehakt, oder eben nicht. De facto bleibt die Bewertung dem einzelnen Gutachter und der einzelnen Gutachterin des MDK überlassen, denn die Punkteskala macht für Kinder keinen Sinn. Das heißt, als Eltern ist man den Damen und Herren hilflos ausgeliefert, die Ergebnisse bei gleicher Situation können ohne weiteres um zwei Pflegestufen abweichen, je nachdem wo man im Bundesgebiet bewertet wird. Das ist frustrierend und bedeutet einen großen Mehraufwand in der gesamten Kommunikation mit dem MDK. Und es fühlt sich sehr unfair an.
Unsere Tochter muss zum Beispiel sehr aufwändig ernährt werden, unter anderem mit Spezialnahrung, die aussieht wie Säuglingsnahrung. Der Einfachheit halber bekommt sie diese auch, obwohl sie bald vier wird, aus der Flasche. Der wenig hilfreiche Kommentar der MDK-Mitarbeiterin: „Na, dann müssen Sie dem Kind einfach mal was anderes zu Essen geben und die Flasche weglassen. Bei meiner Nichte war das genauso.“ – Was die Dame, die unsere Tochter offenbar für genauso gesund wie ihre Nichte hält, in ihr Gutachten schreibt, war keine Überraschung.
Auch mit chronisch kranken Kindern bekommt man von der Krankenkasse nur ein Krankenkassenkärtchen. Ausnahmen sind nicht möglich. Leider hat das Kind zwei Elternteile, die notgedrungen die vielen Arzttermine im Wechsel wahrnehmen. Wie oft wir schon das Krankenkassenkärtchen durch die Gegend gefahren oder geschickt haben, möchte ich nicht zählen. Schlimmstenfalls ist es beim nächsten Arztbesuch noch in der Post.
Die Unterstützungsleistungen für pflegende Angehörige sind erheblich geringer als die Leistungen für professionelle Pflege. Darüber hinaus sind sie aber auch viel kleingliedriger und teils sehr aufwändig zu beantragen. So gibt es eine Unterstützungsleistung im Haushalt. Um diese nutzen zu können, muss die Haushaltshilfe jedoch bei einem Pflegedienst angestellt sein. Das verursacht solche Kosten, dass von dem Geld nur 4 Stunden im Monat bezahlt werden können. Theoretisch sind diese Stunden übertragbar auf das Folgejahr, doch als ich das dem Pflegedienst vorschlug, hat die Dame mich am Telefon glatt ausgelacht. Die vier Stunden im Monat werden auf 2-4 Termine aufgeteilt. Eine Uhrzeit bekommt man nicht genannt, sondern nur einen Vor- oder Nachmittag. Mit Anfahrt und allem verbleibt so wenig Zeit, die die Haushaltshilfe uns tatsächlich hilft, dass der organisatorische Aufwand für uns den Nutzen deutlich übersteigt. Wenn ich die Zeit, die mir im Haushalt gespart wird, mit organisieren und warten wieder verliere, dann bringt die Leistung nichts.
Grundsätzlich kann man für pflegebedürftige Angehörige auch die Tagespflege oder die Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen. Doch hier auf dem Land gibt es keine Tagespflege für kranke Kinder, geschweige denn Kurzzeitpflege. Wobei das keine Rolle spielt, denn ein Kleinkind oder einen Säugling würden wir ohnehin nicht in die Kurzzeitpflege geben, egal wie ausgebrannt wir selbst sind.
Der hiesige kleinstädtische Kindergarten hat 11 Gruppen. Doch keine davon ist integrativ.
Der hiesige kleinstädtische Kindergarten hat 11 Gruppen. Doch keine davon ist integrativ. Zum Glück war die Einrichtungsleitung überhaupt bereit, unsere Tochter aufzunehmen. Oft werden kranke Kinder einfach pauschal abgewiesen. Doch wir haben ein ganzes Jahr mit Einrichtungsleitung und Bürgermeister gestritten, ob der Kindergarten Mehraufwand geltend macht und damit mehr Erzieherinnenstunden genehmigt bekommt, oder ob wir auf unser eigenes Risiko hin eine Integrationskraft suchen. Zum Glück konnten wir uns durchsetzen, dass der Kindergarten die Beantragung übernahm. Denn bei einer Freundin unserer Tochter sehen wir gerade, wie das mit der Integrationskraft läuft: Ist das Kind krank, darf es nicht in den Kindergarten. Ist die Integrationskraft krank, darf das Kind nicht in den Kindergarten. Hat die Integrationskraft Urlaub, darf das Kind nicht in den Kindergarten. Ist der 15-jährige (!) Sohn der Integrationskraft krank, darf das Kind nicht in den Kindergarten. Die Eltern verzweifeln.
Ich könnte noch lange weiterschreiben, doch mir kommen jetzt schon die Tränen.
Der einzige Lichtblick im Behördenwirrwarr ist ein gemeinnütziger Verein, der an die Kinderstation des regionalen Krankenhauses angeschlossen ist und Familien von schwerkranken und chronisch kranken Kindern betreut. Dort finden wir immer Hilfe und Unterstützung, wenn sich mal wieder ein Amt quer stellt, wenn kein Arzt uns aufnehmen will, wenn wir mit einem Formular nicht mehr weiterwissen, wenn wir Fragen zur richtigen Ernährung haben. Dass es keine staatliche Stelle gibt, die das leistet, ist ein Skandal für all die Familien, die in Krankenhäusern behandelt werden, wo es keinen solchen Verein gibt.
Was uns helfen würde?
Familie P, aus der Eifel
2 Kinder, M. (3 Jahre alt, chronisch krank, Pflegestufe 2, 80% schwerbehindert), N. (1 Jahr alt, gesund)
Beide Eltern pflegen M. gemeinsam mit einer Großmutter, im Wechsel über den Tag verteilt, da alle drei arbeiten.
Telefon: 030 – 4597 5750
Selbsthilfe: 030 4597 5760
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